Andacht April 2020

Wer bin ich?

In den verschiedenen Alltags- und Lebenssituationen würde ich diese Frage völlig unterschiedlich beantworten – obwohl ich doch immer die selbe Person bin. Dahinterzusteigen wer man eigentlich ist, ist gar nicht so
einfach: widersprüchliche Gefühle und Zerrissenheit - das ist wahrscheinlich das, was viele empfinden. Die einen zeichnen von sich selbst eher das Bild von „ich bin nichts und ich kann nichts“, die anderen eher „ich bin
der/die beste“. Und oft ist es so, dass ich selbst mal so und mal so denke.

Bin ich eher das, was ich selbst von mir denke
(hier zähle ich mal einiges auf, was vielleicht für dich passt: „ich bin nicht so wichtig für andere, ich bin schlechter als andere, ich bin so unsicher, wer braucht mich schon, und was will ich eigentlich...“)

oder bin ich das, was andere Menschen über mich sagen
(vielleicht sagen sie: „freundlich, sicher im Auftreten, motivierend, herzlich, ein Segen für andere, lebensfroh, selbstbewusst, kompetent....“)?

Dietrich Bonhoeffer hat im Juni 1944 das bekannte Gedicht „Wer bin ich?“ geschrieben. Ein beeindruckendes Zeugnis seines Glaubens in für uns unvorstellbaren Haft-Bedingungen:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!


(aus: Dietrich Bonhoeffer. Widerstand und Ergebung - Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft.) 1

Ich lade dich ein, dir ein paar Momente Zeit zu nehmen und über folgende Fragen nachzudenken:

Welches Bild zeichne ich von mir?
Welches Bild haben andere über mich – was spiegeln sie mir?
Welches Bild hat Gott über mich?
Wie und in welchem Bild hat Gott mich gestaltet?

Hast du Antworten gefunden?
Manche Widersprüche werden sich nicht auflösen. Manche Fragezeichen und Zerrissenheit werden bleiben. So erging es auch Bonhoeffer. Seine Erkenntnis „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott“ darf in
unser Leben sprechen.

Wir gehören dem lebendigen Gott, der HERR über diese Welt ist. Ist das nicht das größte Geschenk und das beste, was mir in meinem Leben passieren konnte? Wenn ich zu diesem Gott gehöre, dann kann ich meine
Identität auch genau bei ihm suchen – meinen Wert an ihm festmachen. Jesus ist für DICH ans Kreuz gegangen.
Er hat DICH frei gemacht!

Nur wenn der Sohn Gottes euch frei macht, seid ihr wirklich frei.

Johannes 8,36

Ihr seid jetzt also nicht länger Fremde ohne Bürgerrecht, sondern seid – zusammen mit allen anderen, die zu seinem heiligen Volk gehören – Bürger des Himmels; ihr gehört zu Gottes Haus, zu Gottes Familie.

Eph 2,19

Wir sind Gottes Hausgenossen. Darüber brauche ich nicht zu grübeln und das in Frage zu stellen. Es IST so, weil Gott es mir zugesagt hat. WIR haben eine neue Identität, in dem Moment, wo wir uns zu Jesus bekennen – er
hat sich schon längst zu uns bekannt, nämlich vor 2000 Jahren am Kreuz von Golgatha.
In aller Zerrissenheit über mich selbst, allem Fragen & Zweifeln, und auch aller Fröhlichkeit & Gelassenheit, darf ich wissen, dass ich zu IHM gehöre. Es muss sich nicht jedes Fragezeichen auflösen – sondern in allem
Unbeantworteten darf ich mich an IHN wenden.

Und so beende ich meine Überlegungen zu diesem Thema mit dem Vorsatz, dass ich nicht immer wieder fragen möchte, wer ich in dieser Welt bin, was ich kann oder auch nicht. Wir sind oft geneigt, das eh schon
komplizierte Leben noch komplizierter zu machen.
Sondern ich will meinen Fokus darauf ausrichten, dass ich Kind Gottes, Kind des Höchsten, ein Königs-Kind bin.

HERR, du erforschst mich und kennst mich!
Psalm 139, 1

Ich danke dir dafür, dass ich erstaunlich und wunderbar gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke, Und meine Seele erkennt das wohl!
Psalm 139,14

Tine, im April 2020


Fußnoten:
Fotos: pixabay, Kawohl-Verlag (Karte 62174, Foto A.Will, Textrechte: Ruth Heil)
Quellen: (1) Dietrich Bonhoeffer. Widerstand und Ergebung - Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft.